Cover
Titel
Fear of the Family. Guest Workers and Family Migration in the Federal Republic of Germany


Autor(en)
Stokes, Lauren
Reihe
Oxford Studies in International History
Erschienen
Anzahl Seiten
XII, 292 S.
Preis
£ 22.99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Florian Wagner, Historisches Seminar, Universität Erfurt

Die deutsche Angst vor „Überfremdung“ war im Grunde eine Angst vor der Einwanderung ausländischer Familien, welche in der bundesrepublikanischen Gesellschaft strukturell angelegt war, sich aber konjunkturell mit unterschiedlicher Intensität artikulierte. So lässt sich das Buch von Lauren Stokes zusammenfassen, wenn man es auf einen Kernpunkt reduzieren möchte. Ihr Zugriff auf die Migrationsgeschichte über die Familie erscheint auf den ersten Blick als verengende These, die nur einen Teilaspekt der „Gastarbeiter:innen“-Geschichte hervorhebt. Bei der Lektüre wird jedoch klar, dass die Debatte um die Familieneinwanderung für die Migrationsgeschichte in der Bundesrepublik zentral war und die Biographien von Millionen Menschen bestimmte. In dem akribisch recherchierten und hervorragend dokumentierten Buch lässt sich Stokes also nicht von einem feststehenden forschungsstrategischen Theorieansatz (ver-)leiten, sondern entwickelt ihre These von der Zentralität der Familie auf Grundlage einer erdrückenden Beweislast verschiedenster Quellen aus Bundes- und Kommunalarchiven, Prozessakten, Wohlfahrtsverbandsliteratur, Grauer Literatur von Aktivist:innen, Zeitungen, dubiosen wissenschaftlichen Studien (als Zeitdokumenten) und migrantischen Biographien. Bis auf das letzte Kapitel, das auch andere Migrant:innen einbezieht, geht es Stokes dabei um „Gastarbeiter:innen“, deren Zahl schon 1964 eine Million erreichte und deren Geschichte sie bis hin zu aktuellen Migrationsdebatten nachzeichnet.

Der aufregendste Befund ist dabei, dass die „Gastarbeiter“-Familien bis in die 1970er-Jahre scheinbar willkommen waren. Die Willkommenskultur für die Familien der meist männlich gedachten „Gastarbeiter“ in der frühen Bundesrepublik war aber keineswegs wohlmeinend. Die Behörden hofften nämlich, dass die Anwesenheit der Familien eine Integration in die deutsche Gesellschaft verhindere und unerwünschten Beziehungen zu deutschen Frauen vorbeuge. Als Voraussetzung dafür sieht Stokes die Essentialisierung von „mediterranen Gastarbeitern“ als obsessive Familienmenschen. Der Mythos vom Zusammenhalt der „mediterranen Familie“ führte demnach zur Annahme, dass „Gastarbeiter“ gar kein Interesse an sozialen Beziehungen mit Deutschen entwickelten. Für die Behörden wurden sie so zu idealen Migranten, welche sich selbst segregierten, sich soziopolitisch entmündigten, nach getaner Arbeit heimkehrten und damit den Charakter der Bundesrepublik als Nichteinwanderungsland perpetuierten. Stokes hebt dabei hervor, dass „mediterrane Familien“ erst spät als patriarchalisch oder muslimisch definiert wurden – und gleichzeitig als repressiv. Trotzdem betrachteten Deutsche die angeblich emotionale „mediterrane Großfamilie“ im Gegensatz zur angeblich rationalen deutschen Kernfamilie als rückständig.

Eine noch größere Bedeutung maßen die Behörden den Familien von „Gastarbeitern“ für Reproduktionsarbeit und Care Work bei, was der Entlastung des Wohlfahrtsstaates dienen sollte. Mit dieser Einsicht löst Stokes' Analyse einen scheinbaren Widerspruch liberaler Gesellschaften auf. Denn die Autorin zeigt anhand der Migrationspolitik in der Bundesrepublik, warum Entgrenzung und Begrenzung bzw. Ausgrenzung derselben neoliberalen Logik entsprangen. Migration war erwünscht, solange sie zum ökonomischen Wachstum beitrug, aber unerwünscht, wenn dabei Sozialleistungen abgerufen wurden. Stokes macht damit am Beispiel der Bundesrepublik nachvollziehbar, wie neoliberale Gesellschaften Migration nutzten, um Sozialausgaben zu externalisieren. Risiken wurden an Migrant:innen und ihre Familien ausgelagert, insbesondere an die für Care Work vorgesehenen Frauen. Nicht immer wurden solche Logiken von Migrant:innen übernommen, auch weil bis zu 30 Prozent unter ihnen Frauen waren. Auf die Bundesrepublik traf diese Erklärung in besonderem Maße zu, weil man sich hier über die Erfolge der Wachstumsgesellschaft politisch und sozial rehabilitieren wollte. Migrant:innen trugen dazu als „self-sufficient unit of labor“ (S. 15) in entscheidendem Maße bei. So bediente die Rekrutierung von „Gastarbeiter“-Familien neoliberale, wohlfahrtsstaatliche, gewerkschaftliche und christliche Prinzipien gleichermaßen, und zwar bereits vor der Hochphase des Neoliberalismus.

In der Praxis konnten sich solche Prinzipien ganz unterschiedlich darstellen, was genauso an Rassismus und Geschlechterrollendenken lag wie auch an Interessenunterschieden einzelner Ministerien und der föderalen, subsidiären Organisation westdeutscher Ausländerpolitik. So erlaubten Behörden situativ den temporären Aufenthalt von Großeltern, weil dadurch die Familie „ihr eigener Sozialstaat“ wurde (S. 42). In anderen Fällen wurde ihr Aufenthalt mit allen Mitteln verhindert. Vor allem wenn „Gastarbeiterinnen“ ihre Ehemänner zur Unterstützung im Haushalt nachholen wollten, warf man ihnen vor, „mediterrane Männer“ würden solche Aufgaben nicht übernehmen und sich nur Arbeitsplätze oder Sozialleistungen erschleichen wollen. Schließlich verhinderten die (lokal uneinheitliche) Vorschrift, für Familiennachzug müsse genug Wohnraum zur Verfügung stehen, und Zuzugssperren für ganze Stadtteile die Zusammenführung von Familien.

Wer glaubt, man könne der Instrumentalisierung der Familie auch etwas Positives abgewinnen, wird eines Schlechteren belehrt. Indem Stokes immer wieder die Perspektive der „Gastarbeiter:innen“ einnimmt, legt sie die menschenfeindlichen Logiken und Praktiken westdeutscher Ausländerpolitik offen. Arbeitsverbote für nachgezogene Frauen und deren Abhängigkeit von ihren Ehemännern machten diese höchst vulnerabel. Gegen häusliche Gewalt konnten sie sich kaum wehren, und Trennungen zogen ihre Abschiebung nach sich. Unter abtreibenden Frauen in Düsseldorf und Gelsenkirchen waren im Jahr 1982 etwa 16–20 Prozent türkische Frauen (S. 161). Kindern wurden Kindergarten- und Schulplätze verweigert, und Eltern mussten aufgrund von Ghettoisierung und Zuzugsbeschränkungen lange Wege zur Arbeit pendeln. Ohne private Betreuung wurden Kinder entweder zu vereinsamten, teils selbstmordgefährdeten „Schlüsselkindern“, oder sie wurden dubiosen Bekannten überlassen, bei denen sie oft (sexualisierter) Gewalt ausgesetzt waren. Ältere Kinder gingen teilweise nicht zur Schule, damit sie auf jüngere Geschwister aufpassen konnten. Die Wohnverhältnisse waren bekanntermaßen katastrophal. 1983 betrafen zudem 40 Prozent der Verkehrsunfälle mit Fußgängerbeteiligung ausländische Kinder, die in Gegenden ohne autofreie Spielflächen aufwuchsen (S. 71). Sowohl die beengten Wohnverhältnisse als auch die aus den genannten Bedingungen entstandene „Vernachlässigung“ von Kindern „lösten“ Behörden teils mit der Abschiebung ihrer Familien.

Während sich solche Ausschließungspraktiken nach dem Anwerbestopp 1973 und im Zuge des offenen artikulierten Rassismus seit den 1980er-Jahren verschärften, zeigt Stokes, dass es sie schon früher gab. „Gastarbeiter:innen“ führten seit den 1950er-Jahren Prozesse gegen Ausländerbehörden, wobei ihnen das Grundgesetz helfen konnte. Oft beriefen sie sich auf Artikel 3 zur Gleichberechtigung der Geschlechter oder auf Artikel 6 zum Schutz von Ehe und Familie. Genauso oft zitierten zwar die Behörden diese Artikel, um Familien fernzuhalten oder abzuschieben, waren aber nicht immer erfolgreich. Parallel zur deutschen „Angst“ vor der Familie identifiziert Stokes darum eine „Angst“ der Behörden vor korrigierendem Eingreifen der Justiz in ihre Diskriminierungspraktiken. Durch die Ermöglichung des Familiennachzugs in den 1980er-Jahren, der mit einer intensivierten Aufenthaltsverhinderung einherging, änderte sich daran wenig. Zu den Hindernissen gehörten die lange Wartezeit von der Hochzeit bis zur Nachzugserlaubnis, das Arbeitsverbot nach der Ankunft oder die Heraufsetzung des Nachzugsalters für Kinder, welche zudem ab Vollendung des 18. Lebensjahres nur dann bleiben durften, wenn sie diskriminierende Tests bestanden und eine Arbeit vorweisen konnten. Statt solche Diskriminierungsstrukturen zu problematisieren und womöglich zu korrigieren, führten Behörden die Probleme der zweiten Generation laut Stokes auf „kulturelle Unterschiede“ zurück.

Es ist wohl eher den Prämissen des angelsächsischen Publikationsmarktes als der Autorin geschuldet, dass theoretische Überlegungen im Buch weniger Raum finden, obwohl bei Migrationsanalysen ein selbstreflektierter Zugang immer wichtiger wird. So könnte man hinsichtlich des Titels fragen, ob der emotionsgeschichtliche Zugriff über die „Angst“ vor der Familie nicht relativierend oder gar apologetisch wirkt, wenn doch die Einleitung und der empirische Teil eindeutig einen tiefsitzenden Rassismus gegenüber ausländischen Familien als Kern des Problems ausmachen, den man auch im Titel beim Namen nennen könnte. Und selbst wenn Stokes hervorragend ohne die mittlerweile in der „Gastarbeiter:innen“-Forschung üblichen Oral-History-Interviews auskommt, um die Sicht und das Leiden von Migrant:innen zu rekonstruieren, wäre ein kurzer Kommentar zur Quellenauswahl erhellend gewesen, zumal diese vorrangig aus deutschen staatlichen, medialen und juristischen Archivalien besteht.

Solche Überlegungen unterstreichen aber vor allem den inspirierenden Charakter des Buches. Lauren Stokes hat eine herausragende Studie vorgelegt, die ein Musterbeispiel für eine intersektionale Migrationsgeschichte ist. Sowohl mit ihrer umfassenden Dokumentation als auch mit der innovativen Analyse geht sie weit über den bisherigen Forschungsstand hinaus. Für Studierende und Forschende ist das Werk unverzichtbar. Aufgrund des alltagsgeschichtlichen Ansatzes ist es auch für ein nichtakademisches Publikum gut zugänglich und zudem gut lesbar. Eine Übersetzung ins Deutsche, aber auch in die Sprachen der verschiedenen migrantischen Communities, könnte zu einem besseren Verständnis für die Geschichte der sogenannten „Gastarbeiter:innen“ beitragen.